Zeit Los Hier

Zeit Los Hier

Da stand sie nun mutterseelenallein im Regen.

Neben ihr die dunklen Gleise der einsam wirkenden Bahnlinie.

Wie kann eine Bahnlinie so einsam sein, fragte sie sich.

Bahnhöfe waren doch immer Orte, an denen Einiges los ist: Da stehen Menschen, die warten, Menschen, die sich verabschieden oder begrüßen. Man hört geschäftiges Treiben, Lärm und die unterschiedlichste Gerüchte sind dort zu Hause. Und es duftet dort gleichzeitig nach Ferne und nach Alltag.

Aber nicht morgens vor Sonnenaufgang in dieser gottverlassenen Gegend.

Der Regen begann ihre Kleider zu durchdringen.

Sie fühlte sich dünnhäutig und aufgeweicht, nicht nur wegen des Regens in der frühen Morgenstunde.

In diesem einsamen Moment, in dem sie die Kühle und Feuchtigkeit spüren konnte drang noch etwas anderes in sie ein:

Eine Erinnerung an einen Regentag vor vielen Jahren.

Sie war 12 und stand neben ihrer Großmutter. Es war ein kühler und regnerischer Tag im Frühling.

Gemeinsam standen die beiden auf der Wiese im Schlosspark wie früher, als sie noch ein kleines Mädchen war.

Es schien wie immer und doch war es irgendwie anders.

Die Großmutter erzählte Geschichten von damals, wußte, dass das Schloss im Park einem Herzog gehört hatte, erinnerte sich, wo der Bach entsprang, der an ihnen vorbei floß – und erzählte ihr und dem Bach, wo er münden wurde.

Unvermittelt drehte die Großmutter sich zu ihr hin und begann zu weinen. „Der Karl ist gefallen“, sagte sie unter Tränen. Die 12jährige schaute ihre Oma fragend an. „Deinen Bruder gibt es nicht mehr schluchzte die Großmutter.“

Sie hatte doch gar keinen Bruder.

Wie heute erinnerte sie sich daran, wie sie weg gerannt war durch den Park und ihre verwirrte Großmutter dort stehen gelassen hatte weil sie ihre Großmutter und deren Welt nicht mehr verstanden hatte.

Eigentlich, so dachte sie heute darüber, hatte die Großmutter die Welt nicht mehr verstanden – oder die Zeit –

Und jetzt stand sie selber verwirrt an diesem einsamen Bahnhof und fragte sich, wo die Zeit geblieben war.

Sie versuchte sich zu erinnern, wohin sie hatte fahren wollen und strich dann sachte mit ihrer Hand über ihre feucht gewordene Wange.

In dieser sachten Berührung der Wange mit ihrer weichen Hand lag etwas Tröstliches.

Diesen einzigen wahren Moment konnte sie spüren.

Sie stand immer noch hier, im Regen neben den Bahngleisen.

Ihre Haut war feucht.

Sie spürte Berührung zwischen Haut und Haut.

Dieser Kontakt erinnerte sie an einen Moment der Berührung von Wange zu Wange, vor langer Zeit, bei einem Tanz.

Sie stand im Regen neben den still gelegten Gleisen und lächelte.

Immer noch lächelnd machte sie sich auf den Weg nach Hause.

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