Das Kind aus der Schublade

Das Kind aus der Schublade

Eines Tages klopft es an meine Türe.
 
Da stand also dieses kleine Wesen vor meiner Türe.
In der rechten Hand trug es ein abgewetztes Köfferchen.
Beinahe sah es aus, wie ein Kind, es wirkte aber feiner und kleiner.
Konnte ein Kind um diese Zeit überhaupt alleine unterwegs sein.
Es war schon weit nach Mitternacht.
Seine Haare standen verstrubbelt in die Luft.
Sie waren vielleicht mal aschblond gewesen.
Jetzt wirkten sie staubig, beinahe als ob jemand Mehl darüber gestreut hätte.
 
Ich blickte nach unten auf das kleine Geschöpf.
Es wirkte wirklich viel kleiner als normale Kinder, fast wie ein Wesen aus einem Märchenbuch.
Dieses Kind war ebenso unwirklich wie dieser Moment, als wären beide, das Kind und der Moment, aus einer sehr fremden Welt an meiner Türe erschienen.
 
Das kleine Wesen stand auf einer hölzernen Türschwelle, die mich an die Eingangstüre meiner Wohnung aus einer lange vergangenen Kindheit erinnerte.
 
Irritiert blickte ich auf, riss mein Augenmerk beinahe gewaltsam weg von dem merkwürdigen Wesen, zurück in die Sicherheit meiner vertraut gewordenen Wohnung.
War ich jetzt verrückt geworden?
Ich rieb mir die Augen.
 
Ja, ich war älter geworden.
Meine Kindheit voller Wünsche und Träume und Zuversicht schien weit entfernt zu sein. Ich habe mir ein Leben als Coach und Lehrerin aufgebaut, ein paar Kinder groß gezogen und ich habe jetzt eigentlich zu tun.
Nachts sitze ich nämlich oft lange vor meinem Ofen und schreibe Geschichten.
 
Warum nur habe ich diese Türe geöffnet, mitten in der Nacht?
 
Das Kind an der Türe hob den Kopf.
Ich sprach es jetzt einfach an:
„Was willst du von mir? Wer bist du überhaupt?“
 
Eine sehr zarte und feine Stimme antwortete.
Ich lauschte verblüfft. Ich war nicht sicher, ob diese Stimme aus meinem Kopf oder aus dem Mund des Kindes kam, dass da vor mir stand und zu lächeln begann.
 
„Du kennst mich doch!“
 
Nein! Das konnte jetzt nicht sein. Das war doch mindestens 40 Jahre her. Und dieses Kind, das da jetzt vor meiner Türe stand war doch vor 40 Jahren bestimmt noch gar nicht geboren.
Ich musste verrückt sein. Vielleicht lag das an den Wechseljahren?
 
Ich blickte wieder zu dem Kind, das inzwischen den Kopf so weit gehoben hatte, dass ich ihm ins Gesicht schauen konnte.
Ich sah ein unwiderstehlich offenes Lächeln und unsere Blicke trafen sich. Nicht einander, sondern sich.
In diesem magischen Moment hatte ich wirklich den Eindruck, mir selber in die Augen zu schauen und dort der Tiefe all meiner vergessenen Träume zu begegnen.
Die blaugrauen Augen dieses nach langer Wanderschaft so staubig gewordenen Kindes das in dieser heiligen Nacht vor meiner Türe stand, blitzten.
 
In diesem gemeinsamen Strahlen erwachten uralte Bilder und Sehnsüchte.
„Setzen wir uns eine Weile zusammen?“ sprach die Stimme, diesmal deutlich aus dem Mund des Kindes vernehmbar zu mir.
 
Ich nickte. „Komm rein, Kleines, möchtest du einen Kakao?“
Das Kind lächelte und nickte zustimmend.
„Lauwarmen Kakao mit Sahne bitte, wie immer!“
 
Lange saßen wir vor meinem Ofen, tranken Kakao und erinnerten uns.
„Bleibst du jetzt bei mir?“
 
Welche von uns hatte das gefragt?
 
 
Hand in Hand traten wir vor die Türe.
Wir schüttelten das Mehl aus unseren Haaren, das wie feine weiße Schneeflocken auf die Erde rieselte.
Von nun an würden wir gemeinsam weiter gehen.

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