Wildgänse

Als ich 15 war und weit davon entfernt, über die Schönheit der Welt zu staunen oder mich gar selbst zu hinterfragen, besuchte ich meinen Großvater im Krankenhaus.

Es war Herbst. Wir gingen hinaus in den Flur in dessen Wartebereich es ein Fenster mit Blick zum Himmel gab.

Er sah hinauf zu einem Schwarm Vögel die vorbei flogen und sagte: „Die Vögel finden jedes Jahr aufs Neue ihren Weg, sie fliegen schon immer in dieser typischen Schwarmformation.“

Obwohl ich zunächst wenig beeindruckt zuhörte, fuhr er fort: „und wir Menschen wissen nicht, wie sie das machen und woher sie ihren Weg kennen.“

Dann legte sich ein triumphierendes Lächeln über sein Gesicht als er beinahe ein wenig trotzig hinzufügte: „Und wir werden es auch nicht herausfinden.“

Mich hat diese Aussage damals so sehr beeindruckt und bewegt, dass ich mich bis heute genau an diesen Moment erinnern kann.

Bis zu diesem Dialog hatte ich meinen Großvater ausschließlich als ein „ernsthaftes, pflichtbewusstes Familienoberhaupt wahr genommen; es wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass er den Vögeln am Himmel hinterher schaut oder sich Gedanken um Dinge macht, die nicht mit Leistungserfüllung zu tun haben.

Vielleicht hatte ich deshalb später das Gefühl, dass dieser Mann, der mit seinen eigenen Kindern so streng gewesen war mit mir – dem verträumtesten und am wenigsten gesellschaftlich angepassten Kind der Familie, eine sehr herzliche Verbindung hatte.

Wenn jemand aus der Familie ihn sehen wollte, mussten wir um eine Besuchszeit bitten. Er begrüßte uns kurz um uns dann spätestens nach 15 Minuten mit den Worten „Du hast sicher noch zu tun“ wieder zu entlassen.

Für diese Audienzen fuhren wir mehr als 250 km.

Als ich meinen Großvater das letzte Mal besuchte, war er so gesund und munter wie es ein über 90jähriger Mann nur sein kann. Er hatte Heringssalat gekauft und war auf dem Rückweg vom Supermarkt auf einem Mäuerchen entlang nach Hause balanciert.

Er der üblicherweise nur sehr kurze Audienzen gab, hielt meine Hand einen Augenblick länger als sonst, sah mich mit seinen halbblinden Augen an und fragte, ob wir wirklich schon gehen wollten.

In diesem Moment wusste Etwas in mir, dass es das letzte Mal war.

Meine Mutter, mit der zusammen ich die weite Strecke gefahren war, um ihn zu sehen, war schon vor die Türe gegangen und spielte mit meinem noch sehr kleinen Sohn.

Die beiden riefen mich aus diesem Wimpernschlag meiner Blitzerkenntnis nach draußen.

Zwei Tage später wurde er akut ins Krankenhaus eingeliefert .

In der Nacht in der er starb hatte ich zu Hause hohes Fieber und ich sah mich im Traum auf seinem Krankenbett sitzen, über uns der weite Himmel mit einem Schwarm Vögel, aus denen einer sich löste und zu uns flog.

Einen Moment später sah ich ihn mit einem Engel an der Seite gehen.

Ich wachte auf um meine fiebernasse Decke umzudrehen und den ruhigen Atem meines schlafenden Kindes zu beobachten. Mein Wecker zeigte 4.42 Uhr.

Mein Großvater kennt nun das Geheimnis. Um 4.42 Uhr in der Nacht ist er mit einem Schwarm Engel davon geflogen.

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